Donnerstag, 26. August 2010

Unsichtbare Gefahren

Das Wetter in Berlin ist wechselhaft. Einem Tag voller Sonnenschein folgt ein wolkenverhangener windiger Tag. Temperaturunterschiede von gefühlten zwanzig Grad Celsius sind dabei keine Besonderheit. Dies verleitet dazu, über die Endlichkeit des menschlichen Leben nachzudenken: über die Zeit, die starrsinnig jeden Augenblick vergeht. Der Sommer wird enden, die Hitze wird enden, die lauen Tage, das Essen im Park um Mitternacht. Die gebräunte Haut wird immer weicher und samtiger, bis zu dem Moment, an dem statt des Sommerkleidchens eine lange Hose über die Beine gestreift und festgestellt wird, dass sich die Haut abblättert, neue Zellen an die Oberfläche schieben, die wieder weiß und genuin ist. Die Sommersprossen im Gesicht werden heller, kleine Pigmentstörungen verschwinden. Die Verkäufer in den Geschäften räumen die Schnäppchenecken und Sommerschlussverkäufe in den Keller und denken an Weihnachten. Und die nächste Grippewelle ist schon wieder greifbar nahe.

Diese Grippeepidemie wird noch gefährlicher werden, noch mehr von Medien und Pharmakonzernen breitgetreten werden, ich tippe auf die Katzengrippe, liege aber damit wahrscheinlich falsch, weil Katzen niedliche Haustiere in der westlichen Welt sind und so eine Epidemie nicht tragbar wäre. Auch wenn in den letzten Jahren tausende und millionen von gesichtslosen Schweinen, Kühen oder Hühner getötet wurden, sind die Menschen noch lange nicht bereit, ihre kleinen Lieblinge demselben Schicksal zu überlassen.

Gegen Grippe hilft natürlich am besten Vorbeugung, erst gar nicht in Berührung kommen mit den Rotzenden und Hustenden, bei Kontakt die Hände waschen, nicht in die Hand niesen und sie dann dem Gegenüber freundlich entgegenstrecken, sondern doch lieber in den Ellbogen.

Am Land und in meiner Kleinstadt hält sich die Angst über Grippewellen und gefährliche Epidemien in Grenzen. Bei der letzten Schweinegrippe ließ sich in Südtirol kaum jemand aus der Ruhe bringen, geschweige denn impfen, es wurde zwar darüber diskutiert und gesprochen, aber die Aufregung belächelt.

In einer Großstadt ist die Ansteckungsgefahr natürlich viel höher, das Risiko ein Vielfaches. Menschen auf engstem Raum in U-Bahnen, machen den Herbst und sein Schmuddelwetter zu einem Volksfest der Bakterien: die Erdenbewohner fürchten sich vor diesen kleinen unsichtbaren Feinden noch mehr als vor Mücken im Sommer.


In New York City wurde ich Zeugin der grassierenden Angst. Eine Unsitte hat sich dort bereits vor drei Jahren durchgesetzt, die sich „Instant Hand Sanitizer“ nennt. Es ist ein durchsichtiges Desinfektionsgel, das in den meisten Fällen nach Zitrone duftet und jederzeit griffbereit in der Tasche mitgetragen werden kann. Raffinierte Marketingstrategen haben sogar eine Halterung für den Gürtel dazu erfunden. Rein in die U-Bahn, Atem anhalten, aussteigen, wieder zurück auf die Erdoberfläche und zack, wie den Colt aus dem Halfter, einmal Desinfektionsmittel über die Hände geschmiert und sich wieder wohl fühlen.

Dieses Desinfektionsmittel wurde für viele zum ständigen Begleiter und kam immer und überall zum Einsatz, es wurde zu einer regelrechten Sucht. Man roch es überall: im Park, in der Toilette, im Supermarkt, im Theater, bei Dunkin‘ Donats, im Sturbucks Coffee, auf Ellis Island, sogar die Freiheitsstatue roch danach, in Brooklyn, in Queens und auch im Central Park.

Einmal war ich mit Freunden zum Essen beim Italiener in Greenwich Village verabredet. Da wir uns entscheiden hatten, in einem Restaurant zu essen, das für seine frischen Zutaten und feinen Kräutermischungen bekannt war, freute ich mich auf einen kulinarischen Genuss der Sinne. Wir nahmen Platz an einem Tisch für acht, fünf Staatsbürger der Vereinigten Staaten von Amerika und drei Anhänger der europäischen Union aus Italien und Spanien.

Wir plauderten im gemütlichen Beisammensein über die kulturellen Unterschiede und die Gemeinsamkeiten. Die Amerikaner interviewten uns neidisch zur italienischen und spanischen Kulturgeschichte, es wurde über Kunst gesprochen, über Leonardo da Vinci und Dali, dazwischen bestellten wir Pappardelle mit frischem Thymian, Wolfsbarsch in der Salzkruste und einen leichten Weißwein, Soave, der fruchtig im Abgang, schon vor dem Gruß aus der Küche geleert wurde. Wir verstanden uns ausgezeichnet, die Amerikaner erzählten von New York City Anfang der 90er Jahre, bevor Giuliani Bürgermeister wurde, vom World Trade Center, von der Bedeutung der USA für die Welt und die geopolitische Stabilität. Es war ein anregendes Gespräch und wir fühlten uns im Geiste verbunden, die kulturellen Barrieren schienen überwunden, wir sprachen eine Sprache, waren ein Volk. Vom Gespräch und vom Wein beflügelt, warteten wir voll Ungeduld auf das Essen.


Und dann sah ich, wie sich in der Tiefe des Saals die Schwingtür öffnete. Die Stimmen um mich herum wurden dumpf und unverständlich, ich starrte auf die Tür und wusste, dass kurz darauf ein junger Mann mit korrekt gescheiteltem Haar und schlanker Taille hinter der Tür auftauchen würde, mit vier dampfenden Tellern in der Hand, die er elegant durch den Raum jonglieren und damit auf uns zusteuern würde. Da war er auch schon und ich konnte bereits die Salzkruste am Tellerrand erspähen. Das Wasser lief mir im Mund zusammen, ich hörte meinen Pulsschlag, oder waren es die Schritte des Jünglings im weißen Hemd mit der schwarzen Fliege? Ich lockerte die Serviette und legte sie über meine Knie, während die restliche Gesellschaft am Tisch bedient wurde. Als auch der zweite Ober wieder von dannen gezogen war, alle erwartungsvoll vor den dampfenden Tellern saßen, sich die köstlichen Gerüche der verschiedenen Spezialitäten in unseren Nasen sammelten und wir uns mit glänzenden Augen anstrahlten, zogen zwei der Amerikaner einen Instant Sanitizer aus der Tasche und desinfizierte sich demonstrativ vor unser aller Augen und Nasen die Hände. Im gleichen Augenblick stank der ganze Tisch nach billiger Zitronensäure, es schien als hätten sogar die Gerichte aus Empörung aufgehört zu dampfen.

„Dammed, warum wascht ihr euch nicht einfach die Hände?“ zischte ich wütend und den Tränen nahe über den Tisch. Meine europäischen Freunde wussten sofort, worauf ich anspielte, meine amerikanischen Bekannten hingegen blickten fassungslos und verwirrt. Ich musste mich präziser ausdrücken und ihnen klarmachen, dass dieses Desinfektionsmittel den ganzen Raum und die ganze Stadt verpestete und nichts, aber auch gar nichts an einem so wohlriechenden Tisch zu suchen hätte.

Nun regte sich ihrerseits die Angeklagten auf und erbosten sich, dass Europäer doch allesamt dreckig seien und noch nie etwas von Hygiene gehört hätten. Ein Mädchen quietschte mit erregter Stimme etwas von den Bakterien – "dschörms", die die ganze Welt zu Grunde richten würden, meine Nachbarin hatte die dreckigen Europäer noch nicht verdaut und konterte mit kulturlosen Amis, Energieverschwender und Hauptschuldige am Ozonloch und am Klimawandel nach den Chinesen.

Die Situation drohte zu eskalieren, die Völkerverständigung war wieder in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gerutscht und ich dachte angestrengt über eine diplomatische Lösung des Konflikts nach, für den ich mich verantwortlich fühlte.

„Meine lieben Freunde“, begann ich beschwichtigend, „das ist doch Schwachsinn, was ihr hier macht. Eure übertriebene Hysterie vor Bakterien und das ständige Desinfizieren sind sinnlos.“

„Ich kann deine Ansicht nicht teilen, meine europäische Freundin, denn in den USA glaubt man daran, dass Bakterien schlimme Erreger für Krankheiten und Grippeepidemien sind und deshalb eliminiert werden müssen.“

„Auch in Europa glaubt man daran mein Lieber, doch tötet ihr mit eurer Aktion nur die Symptome, nicht aber die Ursache. Im Gegensatz dazu, wird beim Händewaschen auch der Schmutz von den Fingern gewaschen und nicht nur die Keime übertüncht.“

„Germs, germs“, klang es wieder bedrohlich aus der Quietscheecke.

„Zudem brauchen die Menschen ein gewisses Maß an Bakterien, um ihre Abwehrkräfte zu stärken.“

Auch dieses Argument stieß auf Unverständnis und die Bakterien waren in den Augen der US-Bürger noch immer Staatsfeind Nummer eins. Klarer Fall für das Terrorismuszeitalter und für Bush-geschädigte Menschen: Bekämpfung unsichtbarer Feinde mit aller Kraft.

Ich dachte angestrengt nach, wie ich einen Zugang zur amerikanischen Denkweise finden könnte um ihnen meine Position zu verdeutlichen. Es musste ein Beispiel sein, leicht verständlich und einfach nachvollziehbar für die US-Bürger. Ich musste es schaffen, in einer schönen Metapher plausibel zu erklären, warum ich das ununterbrochene Desinfizieren für konterproduktiv hielt.

„Es ist doch so“, begann ich: „Euer Körper ist wie ein großes Land mit vielen Einwohnern, sagen wir, wie die USA. Wenn ihr stets eure körpereigenen und fremden Bakterien von außen killt, dann schwächt ihr euren Körper und es verhält sich mit ihm, wie mit einer Armee, die nie in den Krieg zieht. Sie wird schwach, faul und anfällig für Angriffe.“

Das kriegerische Beispiel überzeugte die amerikanischen Beteiligten sofort, unter den Völkern herrschte wieder Waffenruhe und wir konnten in Ruhe mit dem Essen beginnen, das übrigens so köstlich schmeckte, wie es der Geruch versprochen hatte.

Freitag, 20. August 2010

Satz des Tages

Gehört in Prenzlauer Berg, Szeneviertel von Berlin, ausgesprochen von einem Mitdreißiger mit leicht angeödetem Unterton

... ach, ich hab schon so oft 20 € auf der Straße gefunden ...

Donnerstag, 22. Juli 2010

Radikale

Am Montag las ich in der überregionalen linken Zeitung Deutschlands den Veranstaltungstipp: „Gipfelspektakel“. Darunter konnte ich mir noch nichts Konkretes vorstellen, deswegen las ich weiter: es sollte eine Diskussionsrunde der Protestbewegung sein, in welcher Aktivisten (es sind natür-lich auch die Innen damit gemeint, jetzt und für allezeit) über ihre Erlebnisse und Aktionen auf G8 bzw. G20 Gipfeln - also internationalen Wirtschaftsgipfeln, wie Genua, Heiligendamm, Kopenha-gen, die allen in den Ohren klingen - berichten wollten. Es ist nun genau 9 Jahre her, dass der Gipfel in Genua außer Kontrolle geriet und Aktivisten menschenunwürdig behandelt, gefoltert und in der zu schmählichem Ruhm erlangten Diaz-Schule festgehalten wurden. Carlo Giuliani kam dabei zu Tode, auf offener Straße von einem Carabiniere (italienische Polizei) erschossen. Die Prozesse laufen teilweise heute noch.
Natürlich hatte ich davon in der Zeitung gelesen und war auch betroffen, hatte an der Uni mit anderen Studenten darüber diskutiert, wie es überhaupt so weit kommen konnte, was die Regierung falsch gemacht, welche Grenzen die Aktivisten übertreten hatten, dass Gewalt doch keine Lösung sei und doch irgendwie vielleicht, wer weiß, was wäre ohne die Studentenbewegungen der 68er bewegt, mobilisiert worden. Aber es war immer wieder großes Betroffenheitsblabla mit wenig fassbarem know-how und viel gefühltem Interesse. Mit dieser Veranstaltung konnte ich also zum ersten Mal aktiv an einer Sitzung der radikalen Linken teilnehmen.
Radikale gibt es in meiner Kleinstadt eigentlich kaum. Radikale Politik noch weniger, eher regionale, provinzielle, ländliche zuweilen auch lächerliche: „Ich setz mich für die neue Überdach-ung des Hockeystadions ein, deswegen seid so gut Kinder der Jungschar und Pfadfinder und richtet euren Eltern doch bitteschön aus, wenn ihr nach Hause geht nach diesem tollen Osterfest, sie möch-ten doch die Jungscharleiterin wählen.“ Das Radikalste mit dem ich jemals in Kontakt gekommen bin, sind die Freien Radikale, die in der Kosmetik ein großes Thema sind, denen man versucht Einhalt zu gebieten, weil sie zur Hautalterung beitragen. Radikale sind demnach mehratomige Moleküle, die sich aber in ihren chemischen Reaktionen wie Einzelmoleküle verhalten. Die freien radikalen Moleküle schnappen sich dann die Einzelmoleküle und verbünden sich gegen die körpereigenen Abwehrzellen. In diesem Zusammenhang habe ich meistens viel Vitamin C verordnet und einen erhöhten UV-Filter. Schutzschild aktiviert.
Nun betrat ich also erwartungsvoll mit meinem Wissen über Radikale das Cafè. Auf den zwanzig Stühlen, die im Raum Richtung Westen ausgerichtet waren, saß schon überall irgendwer als ich eintraf, auch die Tischchen in den hinteren Reihen waren vollständig besetzt, bis auf einen. Ich freute mich über mein Glück und auch darüber, mich schnell und unauffällig setzen zu können und mich nicht durch die Reihen quetschen zu müssen, denn die Sitzung hatte schon vor etwa einer halben Stunde begonnen. Unmittelbar bemerkte ich den Nachteil meiner Sitzgelegenheit, die sich genau hinter der großen Aluminiumtreppe, die mitten durch den Raum in den darüber liegenden Stock führte, befand. Somit blieben die Aktivisten für mich unerkannt.
Eine italienische Frau mit sehr guten Deutschkenntnissen aber doch unverkennbaren Akzent schilderte gerade ihre Erlebnisse von Genua und die Zeit in der Diaz-Schule. Damals, meinte sie, sei der linke Aktionismus in Italien an seinem Höhepunkt angelangt, die italienische Polizei durch die Proteste in den Jahren zuvor zur Agression bereit. Sie war aber schon am Ende mit ihren Aus-führungen. Dann übernahm ein junger Mann das Wort. Für ihn sei es immer am Wichtigsten, wenn er mal wieder von der Polizei verhaftet würde, zu wissen, dass es da draußen noch Leute gäbe, die ihn nicht vergaßen, die weitermachten. Allgemeines Klatschen. Er lobte das social networking plateau facebook, das sehr gut funktionieren würde auf dem steinigen Weg des kollektiven Regel-bruchs hin zur ökonomischen Sabotage, denn da müsste die Protestbewegung hin. Lauteres Klatschen. Auch er warf ein, dass der Höhepunkt der Repressionen bei Gipfeln in den 90er Jahren lag und vor allem jungen Akademikern vorbehalten war. Sein Beispiel, dass es für die Kassierin vom Supermarkt nebenan etwas problematischer wäre, sich ein paar Tage beurlauben zu lassen, bitteschön mit open end wegen eventueller Gefangennahme oder auch ein Hartz-IV-Empfänger bei der nächsten Antragstellung dadurch etwas in Bedrängnis geraten könnte, leuchtete mir sofort ein. In diesem Sinne fragte der junge Mann nach dem proletarischen Bezug bei Repressionen, deutete die verminderte Gewalt-, aber erhöhte Denkbereitschaft an und äußerte daran anschließend, dass es doch zu schaffen sein müsste, Militante und Denker zusammenzubringen. Die Schlagwörter proletarisch und militant waren anerkennenden Applaus wert. Ein Mann aus dem Publikum warf ein, dass der Aufruf zum zivilen Ungehorsam mit großer Verantwortung verbunden sei, denn man könne nicht einfach Leute dazu motivieren mitzumachen, ohne ihnen detailliert Auskunft darüber zu geben, worauf sie sich einlassen würden und mit welchen Risiken ihr Aktionismus verbunden sein könnte. Ich klatschte. Allein. Ein paar drehten sich nach mir um.
Alles in allem wurde auf der Sitzung klar, dass sich die Protestbewegung seit dem Beginn des neuen Jahrtausends und seit Genua verändert hat. Die Polizei vernetzt sich wie die Aktivisten immer mehr auf internationaler Ebene, die Medien hetzen mit Antirepressionskampagnen und falschen Darstellungen die breite Masse gegen die Aktivisten und schüren damit eine gesellschaftliche Ablehnung anstelle eines Nach- und Umdenkens. Die Proteste gehen selten über einen symbolischen Charakter hinaus. Energiefragen stehen jetzt hoch auf der Agenda der Protestbewegung und die Ziele und Aktionen der Aktivisten in nächster Zukunft werden der beschlossene Stopp des Atomkonsens im Oktober und der Castor-Transport nach Gorleben im November 2010 sein. Ich verließ die Diskussionsrunde und raste mit dem 21 Gänge ausgestatteten Citybike die Friedrichstraße hinauf. War ich dafür, dagegen, war ich jetzt vielleicht selbst radikal und würde ich mich beim Castor-Transport an die Zuggleise ketten? Sollte ich mich bei Amnesty International abmelden und zu Greenpeace wechseln? Ausschließlich Bioprodukte zu mir nehmen, Vegetarier werden, nur noch erdfarbenen Lidschatten verwenden oder am besten gleich ganz vermeiden? Ich glaube kaum und doch, wenn man bedenkt, dass Italien erst vor Kurzem den Bau von vier Atomkraftwerken beschlossen hat. Soll man das einfach stillschweigend akzeptieren?

Mittwoch, 21. Juli 2010

Falkplatz

Also, ich war am Falkplatz, im Naherholungspark für Großstädter und wie der Namen schon sagt, liegen Großstädter dementsprechend faul herum, trinken Bier, rauchen Joints und erholen sich. Junge Männer spielen Frisbee und sehen dabei genauso euphorisch aus wie Hunde, die dem Stöckchen nachjagen, eine sitzende Frau redet mit großen Gesten auf eine andere ein, die da liegt wie die Römer einst in ihrer Toga beim Essen, ich tippe entweder auf Lesben oder Künstlerinnen, ein Hund trottet den Gehweg entlang und fünf Meter entfernt feiert ein Grüppchen von sechzehn Leuten den Geburtstag einer Unbekannten. Paul hatte die blöde Idee dem Geburtstagskind ein Megaphon zu schenken und jetzt muss sie es natürlich gleich ausprobieren, bedankt sich umständlich dreimal bei Paul, bis es auch der letzte Käfer und die Ameise, die zerquetscht zwischen meinen Oberschenkeln klebt, gehört haben. Das mit der Ameise war ein Missverständnis, ich töte nicht mit Absicht, aber wenn‘s zwischen den Beinen kitzelt, reagiere ich reflexartig - katholische Erziehung.
Neidisch betrachte ich die Slakeliner, das würde ich auch gerne können, spöttisch noch einmal die FrisBEES, die so tun, als wäre ihr Unterhaltungsprogramm anstrengender Sport: gehen tief in die Hocke, versuchen der gepressten Erdölscheibe einen Drive zu geben, laufen hochkonzentriert, die Arme locker baumeln lassend, Hühnerbrüstchen nach außen gestreckt, dem Ding nach. Fast erwischt, doch dann schlägt die Wurstscheibe mit der Kante auf den Boden und rollt höhnisch zwischen den Gliedmaßen des Athleten durch.
Frisbee spielen sollte eine Altersbegrenzung haben, mit Beendigung der Pubertät, wenn das Ego stark genug entwickelt ist, und man(N) auch seiner Rhetorik vertraut um Mädchen anzusprechen und nicht mehr auf solcherart Hilfsmittel zurückgreifen muss. Die Spieler, meist Jungens, okkupieren den halben Platz, sind zu dritt, Positionen strategisch festgelegt, neben, wenn möglich einer Dreiergruppe Mädels, die sich ihrerseits so verhalten, als würden sie bloß quatschen. Das eigentliche Ziel ist es, die bunte Scheibe so nah wie möglich in Richtung der Mädchen zu werfen, der Junge läuft dann aus fünf Meter Entfernung auf sie zu, in Slomo, David-Hasselhoff-like in seinen besten Jahren bei Baywatch - er versucht verzweifelt sein Comeback in Deutschland, lookt noch einmal for freedom, aus moralische Unterstützung sei er deshalb hier erwähnt - und taucht dann statt in die Surferwellen von Malibubeach in die Girliegroup.
Nur über 28jährige versuchen daraus eine ernstzunehmende Sportart zu machen. Lassen wir die Kirche doch im Dorf.

Das Leitungswasser schmeckt wie abgestandenes Klo, wahrscheinlich trinken hier deshalb die meisten Bier. Immer, überall, zu jeder Tageszeit. Mein Mitbewohner Giorgio, und weh dem, der den Namen falsch betont, mit einem tsch wie ciao - man sei doch so gut und verwende den geschmeidigeren Buchstaben von John John, Jungle, wie ein Küsschen spitze man die Lippen und denke dabei an die Sonne. Giorgio erklärte das gesellschaftsschichtenspezifische Trinkverhalten, das mit dem harten Kern Überlebender der Vortagsparty frühmorgens beginnt, von Alkoholikern zur Frühstücksstunde verstärkt wird und dann mit dem Mittagsschlag, wie eine Symphonie mit der restlichen Gemeinde als Schönbergchor in ein fortissimo übergeht.
Jedenfalls zählt Bier hier echt zu den Lebensmitteln und Clifford Geertz, ein Ethnologe, meinte mal, die Kultur in einer Gesellschaft bestehe in dem Wissen und Glauben, das notwendig ist, in einem bestimmten Umfeld zu funktionieren und eine Kultur wäre erst dann effektiv beschrieben, wenn ein Regelsystem aufgestellt ist, das es jedem ermöglicht in einer neuen Umgebung so zu funktionieren, dass man als Eingeborener gelten kann. In diesem Sinne zählt Bier hier zum Regelsystem, und um als Einheimischer zu gelten, unterwerfe ich mich diesem. Übrigens steht hier auf den Bierflaschen, aber nur ab 0,5 l glaube ich, die Aufforderung „Bier genießen“, und auch dieser Verordnung wird Folge geleistet.
Die beiden über 30jährigen rechts von mir, die Frisbee zum ernsthaften Sport deklarieren wollten, spielen jetzt Tennis mit Gummibällen, nein mit Federballdingern, oder modischer ausgedrückt Badminton. Die Schläger sehen aber aus wie Squashschläger und ich hoffe inständig, dass es keine von der Freizeit- und Sportindustrie neu entworfene Sportart und dafür speziell angefertigten „Stadtparkminton-schläger“ sind und in zehn Jahren dann eine eigene Disziplin bei der Olympiade stellen.
Die Frisbeegruppe der Jungen und Schönen links von mir ist von drei auf fünf Mitglieder angewachsen, ein Mädchen ist nun mit von der Partie und hält den Verkehr auf, fühlt sich sichtlich unwohl und hat keine Ahnung vom Regelsystem und Geertz dichten Beschreibungen. Sie passt in die Gruppe wie süßes Paprikapulver in Spaghetti-Bolognese-Sugo.
Ihre Unsicherheit überspielt mit sie mit wildem unkontrollierten Zupfen an den Haaren, in den Leerläufen weiß sie wenig mit ihren Extremitäten anzufangen, verdammt noch mal, wo sind die Zigaretten, wenn man sie dringend benötigt? Hände verschränken würde unsportlich aussehen, der Scheibe entgegenzulaufen traut sie sich nicht, außerdem hat sie Angst, dass ihre Brüste dabei unvereinbar wackeln, so lange trägt sie diese nämlich noch nicht mit sich herum, hat sich noch nicht so richtig daran gewöhnt. Sie erwischt von fünfzehn Versuchen nicht eine einzige Scheibe und beim Abwurf landet der Frisbee immer unpassend in der Mitte des Kreises, so dass unklar bleibt, für welchen Mitspieler er bestimmt war und er liegt dann so kläglich darin herum und das Lachen in der Gruppe verstummt, bis sich einer der Umstehenden seiner wort- und kommentarlos annimmt.
Ihre Einsätze werden seltener, dafür applaudiert sie umso begeisterter, wenn anderen souveräne Fänge gelingen.
Gib nur nicht auf Mädchen, eines Tages, und der Tag wird kommen, wirst auch du dieses Ding souverän fangen und endlich den anerkennenden Blick deines Schwarms ernten und vielleicht küsst ihr euch nachher wildromantisch und zelebriert im Mondenschein eure entflammte Liebe hinter einem großen Baum und ritzt dann eure Initialen in seine Rinde und heiratet auch noch und kriegt ein Dutzend Kinder und werdet glücklich bis ins hohe Alter von 97 Jahren und sterbt dann engumschlungen in einem Bett, in derselben Nacht auf der Titanic, oder du siehst ein, dass der Sport doch irgendwie lächerlich aussieht und lässt es bleiben.

Die Slakelinerin in den farbenfrohen Patchworkhosen, mit den freiheitsliebenden Hosenbeinen und dem Schritt zwischen den Knien rollt mit Blick gegen die untergehende Sonne mit ebensolchem liberté-egalité-Gefühl das Seil zusammen. Drei Mädchen treten den Heimweg an, zwei in Hotpants, die andere in eine dicke Decke eingewickelt und die Mütter schieben ihre hier so zahlreichen Kinderwagen in Richtung Ausgang.
Das Geburtstagskind freut sich aufrichtig und laut durch das Megaphon über jeden neu eintreffenden Gast. Sie hat sich in der letzten halben Stunde fünfmal gefreut, lässt sogar die Flaschen beim Anstoßen durchs Megaphon klingen und verfällt dann plötzlich in ein unerwartet harsch klingendes: „Lena ist scheiße“, gefolgt von einem grölenden „Olé olé olé olé wir sind die Champions, olé“.
Na klar, ich wollte es ja nicht anders. Großstadt ist was Öffentliches. Da mokieren sich die Leute immer so über die Kleinstädter, die alle zusammen aufstehen, schlafengehen, einander beim Vornamen grüßen, am Leben der anderen teilhaben, aber da kann man zumindest am Frühstückstisch erzählen „Du gestern im Park, wusste sich die Selina mal wieder nicht zu benehmen, hat rumgeschrien und gegrölt.“ So aber ist es halt anonym.

Die Sonne ist weg, ich auch.

maz

Eigentlich habe ich mir das Ganze so vorgestellt: ich bewerbe mich bei der taz für ein Praktikum.

Hab ich auch gemacht und dachte, dass das sicherlich recht schnell klappen würde, ich die Zusage praktisch schon in meiner Tasche hätte und einfach mein Studium abschließen, die Koffer packen und nach Berlin übersiedeln müsste. Es handelt sich ja schließlich um eine Tageszeitung, also um „Kerle von der flotten Sohle“, wie der Antagonist in Dirty Dancing bissig zu Patrick Swayze meinte.
Der nette Herr, der etwas von Wartezeit in die Antwortmail kritzelte, bremste meinen Enthusiasmus und enttäuscht wandte ich mich an einen Freund in Wien, der wegen der Hundstage in seiner geistigen Spritzigkeit etwas gehemmt, und deshalb ein guter Zuhörer war.
Er meinte, ich solle nicht unnötig Zeit verstreichen lassen und auf einen schlechtbezahlten Praktikumsplatz warten, sondern lieber eine Fixstelle als Chefredakteurin ins Auge fassen.
Darauf ich in meinem neuerworbenen Berlinerjargon: „Nee nee jaa, alles klaar, ich kann auch gleich selbst ein Newspaper veröffentlichen, wie wär’s mit der MAZ.“
Er fand den Vorschlag gut und treffend, weil sowohl die Buchstaben meines Vor- und Nachnamens darin enthalten waren und somit sehr authentisch wirkte. Er fand das Palimpsest sogar noch besser als das Original, weil maz im Gegensatz zu taz, weniger hart klinge und deshalb leichter ins Ohr ginge.
Das überzeugte mich vollends, ich war wieder frohen Mutes und er konnte beruhigt weiterdösen.

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