Sonntag, 26. September 2010

Klassentreffen

Letztens war ich auf einem Klassentreffen: zehn Jahre sind vergangen seit ich viele meiner Mitschüler zum letzten Mal gesehen habe, zehn Jahre seit dem Abitur bzw. der Matura. Abiturire bedeutet im Lateinischen abgehen, maturire, reifen. Während in Deutschland also ein Schüler nach dem anderen abgeht, setzt Italien implizit voraus, dass seine Studenten während ihrer Schulzeit eine gewisse Reife fürs Leben mitgenommen hätten, und als vollwertige Mitglieder in die Gesellschaft entlassen werden.
Es waren knapp über zwanzig Leute in der Klasse und doppelt so viele Mädchen wie Jungs.
Die Mädchen waren die Tonangeber: sie waren fleißiger, mutiger, hatten die größere Klappe und brachten sich aktiv in den Unterricht ein. Von den sieben Jungs in der Klasse hörte man nie viel: zwei waren überdurchschnittlich begabt und mussten deshalb keine Fragen stellen und alle anderen waren das genaue Gegenteil davon und wussten deshalb die meiste Zeit nicht, was gerade anstand. Meine Fragestellungen beliefen sich bei der Mathematik der höheren Stufe, als wir die Funktionsgleichungen, Matrizen und Dinge wie Sinus und Cosinus durchnahmen nicht mehr darauf, wie ich zu einem Lösungsweg kam, sondern wie die Menschen hießen, denen solche Dinge eingefallen waren zu berechnen, ob es sich dabei um Frauen oder Männer gehandelt hatte, ob es Einzelkinder oder Kinder gewesen waren, die sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlten und wann ich im realen Leben damit rechnen müsste, auf solch diffizile mathematische Probleme zu stoßen.
Die Mädchen waren emsig und strebsam, sie erfüllten ihre Pflicht, lieferten sich Wettrennen, wessen Heft am schönsten gestaltet war oder waren die meiste Zeit damit beschäftigt, heimlich und unauffällig etwas zu essen. Der Großteil der Klasse war durchschnittlich, die meisten maßen der Schule keine grandiose Bedeutung bei. Sie wurde absolviert, weil es Mitte der Neunziger Jahre schon Usus war, einen höheren Abschluss als die mittlere Reife anzustreben. Zum Arbeiten war es noch zu früh, eine Lehre wollte man nicht, daher war es doch ganz gemütlich ein paar Jahre in der Schule abzusitzen. Wir waren weder an der Umgestaltung der Gesellschaft noch an der Politik sonderlich interessiert, Viel mehr interessierten wir uns für Musik, für die Party am Wochenende und dafür, mit unseren Freunden so viel Zeit wie möglich zu verbringen. Am Freitagnachmittag gleich nach der Schule ging die wilde Sause los, bis in die frühen Morgenstunden wurde getanzt und gezecht, was das Zeug hielt. In der Disko im Nachbarsdorf, traf sich die gesamte Szene: die hübschen Mädchen und die coolen Jungs, die verfeindeten Burschen der nahegelegenen Dörfer und auch alle anderen: dort wurde geknutscht und zusammengeschlagen, dort entstanden die neuesten Paare, dort verließ man sich, und grölte gemeinsam zu den lieblichen und melodischen Klängen von Scooter. Die Techno- und Hardcorewelle war bis hinter die Berge von Südtirol vorgedrungen und wir sangen mit zu prägenden Sätzen wie: „Es ist nett, wichtig zu sein, aber es ist wichtiger, nett zu sein! – Hardcore!!!“ Und nett waren wir alle. Das höchste Ziel war es, am Samstagmorgen betrunken in die Schule zu torkeln, um zu sehen, wer es nicht geschafft hatte um acht Uhr morgens wieder aufrecht auf seinen Beinen zu stehen. Die Weltliteratur tangierte die meisten nur peripher. Über die fünf Bücher, die im Laufe eines Schuljahres gelesen werden mussten, regten sich die meisten nur auf, dass es eine Frechheit sei, so viel Geld fürs Lesen auszugeben, dass wir doch schließlich Studenten waren, die nicht im Geld schwimmen würden. Die Professorin für deutsche Literatur konterte, dass angesichts der regelmäßigen Schnapsleichen für sie klar hervorgehen würde, dass Kapital anscheinend nicht das Problem war, sondern nur die sinngerechte Verteilung und sie sicher sei, dass nach einer solchen dann auch Bernhards Schlinks Vorleser ins Budget passen würde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die erste Hälfte des „Vorlesers“ für die meisten Jungs der Klasse das einzige Buch ihrer Schulkarriere war, das sie auch wirklich gelesen haben, nachdem sie von den Mädchen vernommen hatten, dass darin Sexszenen vorkamen.
Unsere Interessen waren also vorwiegend sozialer Natur: wer mit wem und wer mit wem warum nicht mehr? Kleider machten auch damals schon Leute, aber unsere Mode war nicht aufregend und individuell, sondern passend zu den 90ern preiswert und auf die beginnende Massenabfertigung getrimmt. Die tollste Marke hieß H&M, weil man dafür über eine Stunde Autofahrt hinnehmen und nach Österreich fahren musste. Ins Ausland also.
Die Ziele und Berufswünsche der Einzelnen wichen stark ab von dem ab, was wir lernten: 15 Stunden Buchhaltung in einer Woche, dazu noch 11 Wochenstunden Rechtskunde und Volkswirtschaftslehre und 2 Wirtschaftsgeographie waren genug, um vielen die Laune und das Interesse an Bilanzabschlüssen zu versauen. Stattdessen schwärmten die Leute davon, ins Ausland zu gehen, die Welt zu entdecken, einer wollte ein großer Ethnologe werden, die Völker näher kennenlernen und studieren, ein anderer wollte in Bayern in die Partyszene eintauchen und ein Lokal in München eröffnen, einer wollte sich mit den Fragen der Psychologie auseinandersetzen. Die Mädchen träumten davon Designerin zu werden, oder zur Polizei zu gehen. Zum Fernsehen wollte keiner, ebenso wenig Schauspieler werden. Nur ein kleiner Prozentsatz strebte das Ziel an, als Manager oder Wirtschaftsboss erfolgreich zu werden oder in einer Bank unterzukommen.
Seit diesen wilden Zeiten waren wie gesagt zehn Jahre vergangen und ich war mir sicher, dass viele zur Ruhe gekommen waren und nach der ganzen Küsserei ihren idealen Traumpartner gefunden und an ihrer Karriere gefeilt hatten. Ich war schon sehr gespannt, was aus meinen Mitschülern geworden war: wer hatte sich selbständig gemacht, hatte kleine spannende Unternehmen gegründet, wer war Bankmanager der Kleinstadt, wer hatte eigene Kanzleien als Wirtschaftsberater eröffnet? Was war designt worden und welche fremden Völker entdeckt. Die Mitschülerinnen stellte ich mir in ihrer Doppelrolle als elegante Businessfrauen mit jeweils einem Kind am Aktenkoffer vor.
Ich ging also zum Klassentreffen mit den größten Erwartungen. Ich setze immer die größten Erwartungen in meine Mitmenschen. Es wurde ein sehr lustiger Abend. Wir aßen ausgiebig, feierten und tanzten wild bis in die Morgenstunden im einzigen Nachtlokal der Kleinstadt. Eine Mitschülerin rutschte vor lauter Enthusiasmus beim Tanzen aus, ein andere küsste einen jungen Mann, vor dem Lokal wollte ein Bekannter aus einem umliegenden Dorf einen anderen aus einem entgegengesetzten Dorf verprügeln. Um acht Uhr morgens fiel ich kopfüber ins Bett und zog Bilanz: von 23 Leuten waren drei Viertel der Klasse Sesselpupser geworden, nur eine hatte sich als Hüttenwirtin selbständig gemacht, kein einziger hatte jemals geheiratet, nur eine Mitschülerin war Mutter geworden. Der Mitschüler mit der höchsten Punktezahl beim Abitur, von dem wir alle gedacht hatten, er würde in die Welt hinausziehen um sie zu verändern, ist jetzt Bademeister. Aber nett sind sie noch immer.

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Ente mit 24 Gewürzen
Ich saß im Flugzeug und dachte an Ente. An Ente mit...
Mary Lou - 6. Feb, 19:08
Schön!
Schön!
Thomas (Gast) - 17. Jan, 16:23
Uns bleibt immer Paris
Ich hatte mich bereits seit Wochen auf Paris gefreut,...
Mary Lou - 29. Nov, 21:35
beh, è dura la vita :)
beh, è dura la vita :)
Mary Lou - 27. Okt, 19:29
Ciao
Das war aber hart gegen die Deutschen. Ist ja teilweise...
Thomas (Gast) - 27. Okt, 15:51

Links

Suche

 

Status

Online seit 5051 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 6. Feb, 19:08

Credits


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren