Freitag, 17. September 2010

Über Vorurteile usw.

Adriano Celentano ist ein großer Philosoph. Er singt in einem der bekanntesten italienischen Lieder (Il tempo se ne va) über seine vierzehnjährige Tochter. Er singt darüber, wie ergreifend es für einen Vater ist, seine kleine Tochter heranwachsen zu sehen. Zu bemerken, dass sein kleiner Engel plötzlich am Telephon Geheimnisse hat, die Barbie in die hintere Ecke des Schranks wirft und ihre Söckchen gegen Nylonstrümpfe tauscht. Ganz plötzlich hat er bemerkt, dass sie erwachsen wird und wie die Zeit vergeht. Die Dinge fallen dem Mensch immer ganz plötzlich auf. Lange Zeit bleiben Veränderungen unbemerkt, bahnen sich an, gehen schleichend vor sich, um dann in einem unscheinbaren Moment in ihrem ganzen Ausmaß fassbar zu werden.

Mit vierzehn will man Kinder noch beschützen und doch müssen Eltern erkennen, dass der Einfluss auf sie langsam zurückweicht. Auf die ersten Pickel folgt der erste Freund und bald schon nach dem ersten zaghaften Kuss jagt eine Party die nächste bis in die frühen Morgenstunden und die Eltern liegen mit offenen Augen wach im Bett.
Eltern versuchen ihre Kinder vor den Gefahren zu schützen, denen sie selbst begegnet sind, nur haben sich die Zeiten und die Umstände in Vielem geändert. Meine Mutter beispielsweise warnt mich noch immer davor, im geschlossenen Zugabteil nicht auf dem letzten Fensterplatz zu sitzen, sondern doch eher bei der Tür, damit ich, falls mir ein Mitfahrer etwas böses will, schnell aus dem Zugabteil laufen und das Bordpersonal alarmieren kann. Sie hat mich auch immer davor gewarnt, nicht Autostopp zu machen und zu keinen Fremden ins Auto zu steigen.

Viele Gefahren, vor denen uns unsere Eltern warnten, haben bereits der Fortschritt und die Technik, oder der Staat bzw. private Unternehmen gebannt. Im Zug gibt es heute nur noch sehr wenige geschlossene Zugabteile. Um den passenden Anschluss am richtigen Gleis zu erwischen, muss man sich nicht mehr nach einem Schaffner oder nach einer Anschlagtafel orientieren, sondern nur mehr auf das Iphon schauen. Um überhaupt ein Zugticket zu ergattern, muss man sich auch nicht mehr drei Tage vorher zum Zugbahnhof bemühen, sondern die Buchung kann ganz gemütlich von zu Hause aus über Internet vorgenommen werden. Im Urlaub quillt aus den Socken nicht mehr Unmengen von verstecktem Bargeld, sondern die Leute verlassen sich auf Bankomatkarten, auf Kreditkarten und auf schnell aufladbare zweite Kreditkarten. Auch stoppt man heute nicht mehr einfach so Autos am Straßenrand, sondern schaut ebenfalls ins Internet. Im Internet gibt es jetzt alles, was es früher im realen Leben gab. Also ist die größte reale Gefahr heutzutage, in einem Funkloch zu landen. Die Trödelmärkte werden von ebay verdrängt und das Autostopp von Mitfahrgelegenheiten. Ist doch auch viel praktischer. Jemand schreibt auf eine offizielle Plattform sein Pseudonym, seine email und Telephonnummer, den Abfahrts- und den Zielort, die Uhrzeit und wie viel er fürs Mitfahren verlangt. Der Interessent telephoniert kurz mit dem Anbieter, es wird eine Bestätigungsemail geschickt und schon hat man der Warnung seiner Mutter Folge geleistet, denn dann ist der Autofahrer schon kein Fremder mehr.

Bis jetzt hatte ich solche Mitfahrgelegenheiten gemieden, zu gefährlich und unbekannt schien mir das Ganze. Doch meine Freunde aus der Großstadt schwören darauf und berichten mir, wie oft sie solch einen Service schon in Anspruch genommen haben, wie praktisch und wie zufrieden sie damit sind. Ich dachte mir, meine übersteigerte Vorsicht rühre von der Kleinstadt her, wo jeder einander beim Vor- und Nachnamen bis in die dritte Generation kennt, und ließ mich überzeugen, über meinen Schatten zu springen und einen Versuch zu wagen. Mutig rief ich vor einigen Monaten einen Herrn an, der die Strecke von Berlin nach München in einem großen Jeep fahren wollte. Ein sicheres Auto schien mir sehr wertvoll, mein Berliner Freund streckte beide Daumen hoch in die Luft, als ich schweißgebadet das Telephon zur Hand nahm und die fremde Nummer wählte. „Jo hallo grießti, wer spricht denn do“ dröhnte ein bayrischer Kontrabass über die Satellitenschüssel bis in mein Ohr. Ich sah mich schon durch einen Wurstwolf gedreht, zu Frikadellen oder Buletten weiterverarbeitet und legte schnell auf.

Doch die Versuchung ließ nicht ab von mir. Seit November letzten Jahres unterlieg ich ihr. Zu süß klingt sie, zu günstig und bequem die Mitfahrgelegenheit im Gegenteil zur überteuerten deutschen Bahn. Deshalb versuchte ich es erneut und verdrängte die Worte meiner Mutter: die Warnungen vor bösen Männern, die Mädchen im Auto mitnehmen und verschleppen, bis ans Ende der Welt, oder aber mindestens bis in den Osten. Die Warnungen haben sich in mein Gehirn geprägt, wie der Bundesadler auf die 2€-Münze. Und vorgeprägte Meinungen bezeichnen wir mithin als Stereotype. Lange Zeit hat Deutschland versucht sich von Vorurteilen zu befreien. Im Zuge der Migrationspolitik wollte sich das Land als eine transnationale Nation sehen, in der jeder Bürger die gleichen Rechte, Möglichkeiten und Pflichten hat, ohne Unterschiede nach Herkunft, Geschlecht oder Bildungsstatus zu machen. Die große Diskussion, die die vermeintlichen Thesen von Herrn Sarrazin losgetreten hat und die Tatsache, dass viele Kinder der dritten Migrantengeneration noch immer nicht deutsch genug sind, hat gezeigt, dass sich die Theorie eines vorurteilslosen Multikulti das sich zu einer großen Kultur verbindet, bis jetzt noch nicht ganz in die Realität umsetzen ließ.

Ich muss zugeben, als ich den Namen Sarrazin zum ersten Mal hörte, wusste ich nicht, wie er auszusprechen war. Intuitiv betonte ich abwechslungsweise ein englisches Sarräisin, ein französisches Sarrasó oder ein polnisches Sarraschin. Dass Sarrazin deutsch sein könnte, darauf wäre ich nicht gekommen. Aber ich weiche ab.
Ich hatte mich vor dem Münchner Bahnhof mit meiner Mitfahrgelegenheit verabredet. Der Name des Fahrers klang italienisch, als wir telephoniert hatten, war zwar ein starken Akzent hörbar gewesen, doch wer spricht in Deutschland schon akzentfrei? Ich wusste nicht, wohin ich den Mann einordnen sollte, soviel war aber klar, aus Sachsen kam er nicht. Als ich ihn dann sah, blieb mir vor Schreck fast das Herz stehen. Meine Mutter erschien vor meinem inneren Auge und ich hörte ihre Stimme: „Siehst Du Marion, ich hatte recht.“ Sie war schon immer sehr wortgewandt gewesen meine Mutter und meine blühende Phantasie hatte dazu beigetragen klischeehafte Schreckensgespenster und potenzielle Gefahren vor denen sie mich warnte, in allen Farben auszumalen. Doch die Realität übertraf meine Vorstellung bei Weitem:

vor mir stand ein großer schwarzer BMW mit bulgarischem Kennzeichen und geöffnetem Kofferraum. Als der Kofferraum zugeschlagen wurde blickte mir ein rauchender überdimensionaler älterer Bulgare entgegen. Sein Gesicht war ernst, seine Augen zugekniffen und er trug einen dunkelgrünen Frottee Turntrainer. Ich schluckte zweimal, dann drückte ich ein verkrampftes: „Hallo, sind Sie die Mitfahrgelegenheit“ heraus und schluckte gleich nochmal zweimal. Danach war mein Mund wie ausgetrocknet. Er schnaufte stark, als er meinen Koffer im Wageninneren verstaute und antwortete kurz angebunden mit „Ja“ oder „Da“.
Außer mir warteten noch zwei weitere Mädchen auf die Abfahrt. Ich begrüßte die beiden, sie schienen im Gegensatz zu mir ruhig und gelassen. Die eine war zart und dunkelhaarig, mit schwarzen Mandelaugen. Sie kam aus Persien. Die andere ein zierlicher blonder Engel aus einem zweihundert Seelen Dorf in der Nähe von Erding. Ich dachte daran, dass mir beide bei einem eventuellen Kampf nicht sehr hilfreich sein würden. Weil Angriff bekanntlich die beste Verteidigung ist, beschloss ich im Auto vorne zu sitzen und den Herrn in ein Gespräch zu verwickeln. Ich bemerkte wie uns die Blicke der Leute verfolgten, als das unterschiedliche Vierergespann im Inneren des Wagens verschwand und in unbekannte Richtung losfuhr.

Die Angst lebt von der Phantasie, das Vorurteil von unbestätigten Fremdbildern. Nimmt man diese zwei Ingredienzen aus dem Pot bleibt in der Regel nicht mehr viel vom Klischee übrig. Wie sich herausstellte, arbeitet der gefährliche Herr für die bulgarische Botschaft und lebt aus beruflichen Gründen im Süden Deutschlands. Seine Frau und zwei Kinder wollten die ständigen Reisen und Versetzungen nicht mitmachen und blieben in Berlin. Deshalb legt der liebende Familienvater jedes Wochenende Hunderte von Kilometern zurück, um seiner Familie nah zu sein. Der Herr war überdies früher Opernsänger und beherrscht acht Sprachen fließend. Wir führten unsere Konversation bis nach Berlin auf Russisch und sangen zu Andrea Bocellis „Time to say good bye“ („Con te, partirò.“).

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