Mittwoch, 27. Oktober 2010

Don Giovanni

Wir waren letzte Woche in der Deutschen Oper, Don Giovanni. Pünktlich um 19:00 Uhr ging das Spektakel los, das Orchester setzte ein, langsam füllte sich die Bühne mit Menschen. Ich konnte sie kaum erkennen, ebenso konnte ich die Übertitel nicht lesen, denn ich hatte keine Brille. Kurzsichtig in einem dunklen Raum zu sitzen und versuchen Zeichen zu entziffern, die nur schwammig und schummrig vor Dir aufleuchten, macht keinen Spaß. Ich schaltete auf meinen Gehörsinn um schließlich spreche ich italienisch, aber wenn ein Wort wie Vendetta von einem Sopran drei Minuten in die Länge gezogen und durch Kapriolen und Trällern verzerrt wird, ist es auch recht schwierig, den Wortlaut zu erkennen. Ich dachte, das wird der langweiligste Opernbesuch meines Lebens.

Ich beschloss einfach in mich zu gehen und ließ mich von Mozarts Musik berieseln. Die moderne Inszenierung lief an meinem äußeren unscharfen Auge vorbei, Don Giovanni und sein Diener traten immer wieder gemeinsam auf, die Bauern hielten statt Sensen Golfschläger in den Händen, das Fest in Don Giovannis Haus ähnelte einer dekadenten Party im Berghain. Dann war der erste Akt auch schon zu Ende, der letzte Ton verklang und die Hälfte des Publikums begann zu klatschen. Ich schloss mich an. Die andere Hälfte hingegen, verfiel in laute Buh-Rufe. Das Klatschen wurde heftiger, die Buhs ebenso. Ein klarer Fall von geteilter Anschauung. Die akustische Meinungsbekundung dauerte geschlagene zehn Minuten, die Opernsänger waren längst von der Bühne verschwunden, die Zuschauer merkten, dass der Krieg nur noch zwischen ihnen stattfand, beruhigten sich und gingen in die Pause.
Die Oper begann mir langsam zu gefallen, ich hatte schon in einigen Ländern Opern und Theateraufführungen besucht, aber solche Furore im Zuschauerraum, hatte ich noch nicht erlebt. Und dann ausgerechnet in Deutschland. Ich war fasziniert und erwartete heiße Diskussionen im Foyer, lautstarke Äußerungen der Entrüstung, wie schlecht doch die Inszenierung sei, wie entwürdigend für ein klassisches Stück, so dekadent neumodisch und vulgär auf die Bühne gebracht zu werden. Doch ich täuschte mich, die Zuschauer tranken in Ruhe ihren Wein und warteten auf die Fortsetzung. Ich schloss daraus, dass die Menschen, die ihrem Unmut Platz gemacht hatten, entweder gerade alle auf der Toilette waren, oder das Opernhaus bereits verlassen hatten und dass nach der Pause sicherlich nur noch die Hälfte der Personen anwesend sein würden. Nach dem zweiten Klingeln, das wie eine Eieruhr klang und das nahe Ende der Pause signalisierte, gingen wir wieder in den Saal, die linken und rechten Sitznachbarn und Buhisten drückten sich an uns vorbei oder tief in ihre unbequemen Sessel, und ich merkte wieder einmal, dass in Deutschland alles ganz anders ist. Dass die Deutschen lediglich auf ihr Recht beharren, ihre Meinung kundzutun. Sie wollen gefragt und gehört werden. Aber sie sind dann trotzdem erwachsen genug, um nicht impulsiv die Szene und den Saal zu verlassen, sondern geben jedem noch eine zweite Chance sich zu verbessern. Ich war stolz auf sie. Was für ein reifes und entwickeltes Volk.

Wir setzten uns in Position und waren bereit für den Niedergang Don Giovannis und seine Höllenfahrt. Alles verlief planmäßig, im Berghain war Sperrstunde und Giovanni ging mit seinem Kumpel zu einer Statue. Er begann mit dem Stein zu sprechen, dieser lud ihn zum Mittagessen ein, er reichte ihm die Hand und sagte freudig zu.
Dann geschah das Unerwartete. Während das Publikum den Gesängen der Halbnackten, nur mit irgendwelchen Lederimitaten spärlich bekleideten Sänger auf der rechten Seite der Bühne lauschte, fielen plötzlich links zwei dunkelblau bemalte Neonröhren in den Orchestergraben. Ein Statist hielt kurz inne. Dann war die Oper aus.
Die Musik hörte auf zu spielen, die Opernsänger huschten von der Bühne und nichts. Kein Mensch wusste was passiert war, war die Dekoration auf die Musiker gestürzt oder noch schlimmer auf eines der wertvollen Instrumente, oder war etwa sogar ein Sänger in den Graben gefallen? Auf der Bühne wurde es hektisch: Techniker entfernten in Windeseile die gesamte Beleuchtung, die am Bühnenrand stand, im Graben blieb es immer noch ruhig. Dafür begann sich im Publikum wieder alles zu regen, eine Frau schrie auf Italienisch „Es ist eine Schande“. Da antwortete es dumpf vom Orchestergraben herauf: „Ist hier ein Arzt?“
Wieder Ruhe. Niemand sagte etwas, alle schauten betroffen in die Tiefen des dunklen Orchestergrabens, der so tief zu sein schien, wie die Hölle selbst. Im Saal wurde es heller, die Zuschauer dachten wohl, damit sie besser sehen könnten, schließlich war die Vorstellung bezahlt und noch nicht vorbei. Alle verfolgten die weitere Demontage der Lampen, dann kam endlich ein Sanitäter in die Szene. Die Spannung stieg, die Zuschauer hatten sich von ihren Plätzen erhoben und starrten gebannt in den Orchestergraben. Obwohl es jetzt ruhig war, keine Musik ertönte, keine Startenöre die Sinne begeisterten, schienen das Publikum doch in seiner Aufmerksamkeit gefesselter als zuvor.
Meine Freunde und ich verließen den Saal, Georg ging rauchen, Vera aufs Klo, ich stand noch ein bisschen zwischen Eingang zum Saal und Foyer und beobachtete einen Mann am Ende seines mittleren Alters in einem noblen grauen Anzug. Er blickte voll Interesse in den dunklen Orchestergraben, wo inzwischen die Sanitäter mit einer Infusion hantierten. Die Musiker waren den Sängern hinter die Bühne gefolgt und nur noch die leeren Stühle boten dem unsichtbaren Verletzten Blickschutz. Auf einmal regte sich im Gesicht des Mannes vor mir etwas wie Unruhe, mit der Hand fuhr er in die rechte Hosentasche und hielt sich an irgendetwas fest. Seine Pupillen waren geweitet, sein Körper voll Konzentration und Vorsicht. Ich trat einen Schritt zurück und verschwand aus seinem dezidiert engen Blickfeld. Als er sich in Sicherheit wog, schnellte aus dem Inneren des Textiles eine kleine Digitalkamera, die er bereits in weiser Vorahnung in der Hosentasche eingeschaltet hatte und er knipste in Richtung der Unfallstelle. Ich hatte etwa einen halben Meter hinter ihm gestanden und ihm über die Schulter geschaut, der Mann hatte vor lauter Eile ohne zoom geknipst, außerdem zu weit oben angesetzt. Kurz, das Photo war grottenschlecht, zu erkennen war rein gar nichts und der Aufwand hatte sich kaum für den schmähenden Blick gelohnt, mit dem ich ihm jetzt „Unfallknipser“ in den Rücken tätowierte. Er drehte sich um, sah mich schuldvoll wie ein ertapptes Kind an und verschwand geschäftig im Opernsaal. Was für ein reifes und entwickeltes Volk.
Nach zwanzig Minuten bestieg eine etwas unkoordinierte Inspizientin die Bühne und klärte das Publikum auf, dass ein Statist auf der Bühne kollabiert, in den Orchestergraben gestürzt und dabei auf zwei Musiker geplumpst sei. Da nahmen die Zuschauer wieder das Ruder in die Hand und riefen begeistert und altruistisch „Abbrechen“, was kurz darauf auch geschah.
Alle gingen zufrieden nach Hause: die einen mit schlechten Photos in der Tasche, die anderen mit dem wohligen Gefühl von Schauer, welchen tragische Erlebnisse mit sich bringen, wieder andere mit dem Stolz in der Brust, aktiv zum Geschehen beigetragen zu haben und ich mit der Gewissheit, dass dies die spannendsten Opernvorstellung meines Lebens gewesen war.

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