Dienstag, 19. Oktober 2010

Napoli

Ein Problem wird erst dann zum Problem, wenn man es als solches anerkennt und sich mit ihm auseinandersetzt. Alles was erfolgreich verdrängt, totgeschwiegen oder übergangen wird, ist kein Problem. Alles was nicht gesehen, gehört oder ausgesprochen wird, existiert auch nicht.
Eltern ersparen sich durch eine solche Haltung oft viel Ärger im Alltag: heute fuhr ein kleiner Junge in Windeseile gefolgt von seinem Vater auf seinem Fahrrad an mir vorbei: der Junge stürzte auf den fiesen Pflastersteinen und heulte im gleichen Moment los. Ich hatte mich ebenso erschrocken wie das Kind und wollte zu ihm hinlaufen. Der Sturz muss sehr schmerzvoll gewesen sein, ich sah wie ein bisschen Blut floss, und Dreck am Knie des Kindes klebte. Der Junge lag am Boden und ich dachte, der Vater würde gleich von seinem Rad absteigen und sich sorgenvoll über seinen Junior beugen und seine Wunden begutachten. Der Vater aber begann nur laut zu lachen, er hörte nicht damit auf und insistierte darauf, dass überhaupt nichts geschehen sei: Er wiederholte diesen Satz zehnmal innerhalb einer Minute in einem fröhlichen, doch sehr bestimmten Ton, aber das Kind beruhigte sich nur schwer. Als er jedoch das Satzgefüge auf: „Dir ist sicher nichts passiert, ich habe es doch gesehen“ erweiterte, vergaß der Junge seinen Schmerz und vertraute auf die Weisheit seines Vater. Dieser fügte noch ein erzieherisches „Fahr jetzt einfach ein bisschen langsamer Jungchen“ an, während der Kleine auf sein Rad stieg und mit derselben Geschwindigkeit und derselben guten Laune weiter über den Gehsteig raste. Der Vater erklomm sein Velo ebenfalls wieder mit einem erleichterten Lächeln. Ich hauchte dem Mann ein mitfühlendes „Au, das muss stark geschmerzt haben“ zu, der Vater nickte. Aber was das wichtigste war: die Situation war gerettet, keiner musste die Feuerwehr oder den Notarzt alarmieren. Alles war gut.

Was für Eltern klappt, kann für Staaten nicht verkehrt sein. Ein Staat ist doch im Grunde nichts anderes als eine große Familie, die von den weisesten, klügsten Köpfen regiert wird. In Italien funktioniert deshalb dieses „Alles ist gut“-Prinzip hervorragend. Je steiler es mit der Wirtschaft in Italien bergab ging, desto öfter ließ Berlusconi sein Lächeln liften. Die Wirtschaftskrise wurde einfach totgeschwiegen, der Premier behauptete vehement, dass Italien nicht davon betroffen sei, weil es anders funktioniere als der Rest der Welt. Alle Kinder glaubten ihm. Wer die große Wirtschaftszeitung des Landes aufschlägt, wird sich ebenfalls davon überzeugen können, allein schon ihr Name „24 Stunden Sonnenschein“ lässt nur Gutes erahnen. Die Sonne und ein lächelndes Gegenüber machen die Menschen sorglos und sie können sich um die wichtigen Dinge in ihrem Alltag kümmern, ihre Beziehung zum Nachbarn verbessern, Freundschaften aufbauen und an der Liebe arbeiten. Nur wer seinen Blick allzu scharf auf etwas richtet und einer Sache allzu viel Aufmerksamkeit schenkt, wird mit Sicherheit auf ein Problem stoßen. Journalisten beispielsweise stecken ihre Nase in jeden Dreck und wundern sich dann, wenn es stinkt.
Neapel wurde dank der Medien mit vielen Vorurteilen bestückt und sein Image stark beschädigt: man hört nur noch schlechte Sachen von dort, als wäre es ein Krisengebiet: von Müll und Mafia ist die Rede und grimmige kleine Italiener schleichen sich in die Gedanken, mit jeweils einer Pistole in der einen und einem Müllsäckchen in der anderen Hand. Doch wie immer darf man den Medien nicht zu viel Glauben schenken und sollte sich selbst sein eigenes Bild von der Stadt machen. Dann merkt man auch schnell, wie freundlich und kommunikativ die Bewohner sind und dass man nichts fürchten muss, solange man sich nicht zur falschen Zeit am falschen Ort befindet und seine Handtasche immer schön festhält.

Das Klima ist traumhaft, die Architektur erwärmt das Herz. Die Sonne brennt mit vierzig Grad auf die Hafenstadt, doch die Hitze wird in den engen Gassen nicht als drückend empfunden. Immer wieder fallen erfrischende Wassertropfen vom blauen Himmel. Die Bewohner hängen aus Platzmangel in den Wohnungen ihre Wäsche zum Trocknen auf Leinen, die hoch über der Fußgängerzone von einer Häuserreihe zur gegenüberliegenden gespannt sind. So flattern in der ganze Stadt Unterhosen in der Luft, wie andernorts Wimpel der traditionellen Adels- und Kaufmannfamilien.
Der Vesuv erhebt sich stolz in der Ferne, vom Golf blitzt funkelnd das Wasser im Sonnenschein und ein Lächeln huscht über die Gesichter der Menschen. Irgendwo wird immer getanzt, oder geheiratet, applaudiert oder gerannt. Irgendwo hört man immer den explosiven Verbrennungsmotor einer Vespa. Die Menschen sind gelassen, ohne Hektik pflücken sie Zitronen vom Baum des Nachbarn oder zünden für den Schutzheiligen ein Kerzlein an.

San Gennaro ist der geistige Patron Neapels. Er starb als Märtyrer, und von seinem Blut blieben einige Tropfen erhalten. Sie wurden in einer schönen Monstranz konserviert und sind eingetrocknet. Zweimal im Jahr verflüssigt sich das Blut wie durch ein Wunder und daraufhin werden die Gebete der Menschen für Fruchtbarkeit, Gesundheit oder ganz allgemein für ein besseres Leben, erhört. Der weltliche Volksheld dagegen ist nach wie vor Diego Armando Maradona. Der Ausnahmefußballer argentinischer Herkunft hatte es geschafft, den örtlichen Fußballverein 1984 zum Sieg in der Meisterschaft zu führen. Als dies vollbracht war, ging es plötzlich wie durch ein Wunder mit Neapels Wirtschaft steil bergauf, die Menschen schienen glücklicher, die Geburtenrate stieg, ihre Gebete waren erhört. Die Stadt ist mit kleinen Bittstöcken gepflastert. In jeder zweiten Ecke erhebt sich gleichermaßen ein kleiner Steinaltar auf einem Sockel, mit Blumen geschmückt und einem alten vergilbten Bild in der Mitte. Auch für San Gennaro werden manchmal solche Altäre gebaut.

Die Menschen kleiden sich sehr modisch. Seit die neapolitanische Unterwelt dazu übergegangen ist, chinesische gefälschte Markenartikel zu fälschen, kann sich jetzt wirklich jeder das Chanel-Imitat leisten. Das Handelsmonopol für imitierte Handtaschen liegt fest in der Hand afrikanischer Einwanderer, weil sie die längeren Beine haben als Neapolitaner und wenn eine Polizeisirene ertönt, sieht man wie in Windeseile die Decken, auf denen die guten Stücke thronen, zusammengepackt werden und in alle Himmelsrichtungen auseinandergestoben wird. Auf dieses Ereignis warten die Städter, wie auf die Pilzesaison in den Wäldern. Eine Handvoll Taschen bleiben in der Regel immer als Kollateralschäden auf der Strecke und so liegen in Neapel die Gucci-Taschen buchstäblich auf der Straße herum und warten auf ihre neuen Besitzer.
Die Unterwelt hat ihren eigenen Reiz in Neapel: Sie erstreckt sich über zwei Millionen km² unterhalb der Stadt. Dieser sogenannte Sottosuolo ist ein Labyrinth aus geheimnisvollen Gängen und Stollen. Vor etwa dreitausend Jahren wurde in Neapel begonnen Tophus abzubauen. Das magmatische Gestein findet sich in der Nähe des Vesuvs massenhaft und ähnelt in seiner leichten Verarbeitung dem herkömmlichen Kalk. Man benutzte ihn um die zahlreichen Tempel und Amphitheater zu errichten. An den Mauern zum Untergrund lassen sich Einflüsse der griechischen Architektur ablesen. Vor einigen Jahrhunderten haben die Römer den Sottosuolo zu einem Aquädukt umfunktioniert und ihm sein heutiges Gesicht gegeben. Die Gänge erstrecken sich fast über die gesamte Stadtfläche, besser gesagt unter ihr. Touristengruppen scharen sich in Massen vor den Eingängen und werden gebückt und mit einer Kerze bewaffnet durch die engen Gänge geschleust und gedrückt bis sie zu den kleinen Stauseen und zu den Überresten des unterirdischen Amphitheaters kommen. Wer sich dort hinunter wagt, sollte weder an Klaustrophobie leiden, noch allzu weit vom optimalen Bodymaßindex nach oben hin entfernt sein.

Eine Führung dauert gleich mehrere Stunden um den Eindruck von der Weitläufigkeit und der Größe dieses Untergrunds vermitteln zu können. Die Touristenführer erzählen ausführlich und voller Enthusiasmus von der Erbauung und Nutzung der Stollen, von den Theateraufführungen unter Tag, als sich die Menschen noch für Kultur interessierten und darüber, dass Neapel erst vor kurzer Zeit die Stollen für Touristen und Publikum freigab. Während der Zeit der Weltkriege hatten die Stollen noch als Unterschlupf und Katakomben gedient, aber nachher sei es still geworden im Sottosuolo. Ich fragte nach, was mit der große Fläche in der Zeit danach passiert war, bis zur Öffnung für die Touristen. Der nette Führer antwortete frei von der Leber, dass vorher der ganze Müll in den Untergrund geschüttet worden war. Irgendwo musste er ja hin. Erst als kein Platz mehr dort war, begannen die Diskussionen und Grübeleien, was mit dem Müll geschehen sollte. Erst als Politiker und die Mafia, bzw. die Ndrangheta gleichermaßen zu verhandeln begannen, wurde man sich darüber einig, dass es doch am besten für alle Beteiligten sei, den Müll, in dem Neapel zu versinken drohte, nach Deutschland zu exportieren.
Aber bis dahin lachte die Sonne über Neapel.

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